Verhältnismäßigkeit des Streikrechts wahren – Nordrhein-Westfalen setzt sich für gesetzliche Vorgaben für Arbeitskämpfe in der kritischen Infrastruktur ein!

I. Ausgangslage

Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit sind verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte. Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz sagt: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig...“

Arbeitskämpfe sind dabei ein legitimes Instrument, um Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Tarifverhandlungen durchzusetzen und für höhere Vergütungen und bessere Arbeitsbedingungen einzutreten. Das Bundesarbeitsgericht hat dazu festgestellt: „Tarifautonomie ohne Streikrecht ist nichts anderes als ‚kollektives Betteln‘“(BAG Urteil vom 10.06. 1980 –1 AZR 168/79). Das Ziel einer wirtschaftlichen Schädigung des Arbeitgebers ist Teil dieses Zwangsmittels des Streiks.

Dennoch ist auch bei Arbeitskämpfen die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Bisher gibt es aber keine gesetzliche Regelung hinsichtlich zulässiger Maßnahmen bei Arbeitskämpfen. Das Arbeitskampfrecht ist weitgehend durch die Rechtsprechung in Einzelfallentscheidungen geprägt. Ein Kernelement ist dabei das Ultima-Ratio-Prinzip, das vom Bundesarbeitsgericht in mehreren Urteilen definiert wurde (u. a. BAG Urteil vom 21.06.1988 –1 AZR 651/86). Aus dem Ultima-Ratio-Prinzip folgt, dass Arbeitskampfmaßnahmen erst dann ergriffen werden dürfen, wenn ohne sie ein Tarifabschluss im Wege von Verhandlungen nicht zu erreichen ist.

Dies bedeutet, dass grundsätzlich vor einem Streik Forderungen über den Inhalt des abzuschließenden Tarifvertrags erhoben und in der Regel auch erfolglos Verhandlungen darüber geführt sein müssen. Das Ultima-Ratio-Prinzip verlangt jedoch nicht, dass die Tarifverhandlungen förmlich für gescheitert erklärt werden. In der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen liegt vielmehr die freie und nicht nachprüfbare Entscheidung der Tarifvertragspartei, dass sie die Verhandlungsmöglichkeiten ohne begleitende Arbeitskampfmaßnahmen als ausgeschöpft ansieht.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch für die Art und Weise, wie ein Streik durchgeführt wird: Die Mittel des Streiks und die einzelnen Maßnahmen im Rahmen eines Streiks dürfen ihrer Art nach nicht über das hinausgehen, was zur Durchsetzung des erstrebten Zieles erforderlich ist. Der Arbeitskampf muss sich deshalb auch zumindest an Grundgebote der Fairness halten. Unverhältnismäßig ist ein Arbeitskampfmittel auch, wenn es sich als unangemessene Beeinträchtigung gegenläufiger, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen darstellt (BAG Urteil vom 19.06.2007 –1 AZR 396/06).

Bei Streiks in der kritischen Infrastruktur wie Transport- und Verkehrsgewerbe, Telekommunikation, Energieversorgung, Abfallentsorgung, Lebensmittelhandel, Gesundheitswesen und Finanzwesen sind neben dem Arbeitgeber aber vor allem auch Dritte betroffen. Menschen können nicht arbeiten, wenn z. B. die Verkehrsverbindungen zum Arbeitsplatz wegfallen. Unternehmen haben Produktionsausfälle, wenn Anlieferungen nicht erfolgen können. Zwar muss es möglich sein, auch im Bereich der kritischen Infrastruktur wirkungsmächtig zu streiken. Dieses Grundrecht könnte allerdings durch gesetzliche Vorgaben so gestaltet werden, dass die Beeinträchtigung der Öffentlichkeit möglichst gering bleibt und eine verlässliche Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird.

Tarifverhandlungen in Deutschland werden aber nach Aussage von Hagen Lesch, Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), mittlerweile härter als früher geführt. Ein Grund ist die hohe Inflation der vergangenen Jahre. Die Gewerkschaften gingen nun in die Offensive, um wieder Kaufkraftgewinne zu erzielen, sagt Lesch. Ein weiterer Grund ist die schwache Konjunktur. Diese mindere auf Arbeitgeberseite die Bereitschaft für Zugeständnisse. Hinzu komme, dass bestimmte Gewerkschaften durch aktive Tarifbewegungen Mitglieder gewinnen wollten und damit teilweise auch schon erfolgreich gewesen seien.

Etliche andere europäische Staaten haben Vorgaben zur Ankündigung von Arbeitskampfmaßnahmen, zu Schlichtungsversuchen und zur Sicherung notwendiger öffentlicher Dienste. In Frankreich besteht seit 2007 eine gesetzliche Regelung über die Vermeidung von Konflikten und Mindestdienstleistungen im öffentlichen Verkehr. In Italien müssen in grundlegenden Dienstleistungsbereichen Schlichtungsverfahren eingehalten werden, zudem ist eine Vorankündigungsfrist von zehn Tagen einzuhalten und die Grundversorgung während des Streiks zu gewährleisten (Gesetz Nr. 146 von 1990).

Wird zum Beispiel die italienische Staatsbahn bestreikt, muss sie immer ein Mindestangebot an Verbindungen für die Reisenden garantieren. Streiks dürfen sich auch nicht über mehrere Tage wie in Deutschland erstrecken, sondern immer nur über einen Tag. An Feiertagen sind sie überhaupt nicht erlaubt. Der Staat hat zudem starke Rechte, um die Streiks zu begrenzen. In Spanien entscheiden nationale oder regionale Behörden von Fall zu Fall darüber, welche Mindestversorgung angeboten werden muss. Als etwa im vergangenen Jahr in der autonomen Region Madrid die Mitarbeiter der Zuggesellschaft Renfe streikten, legte die Madrider Regionalregierung fest, dass in der Rushhour 75 Prozent der Nahverkehrszüge als Mindestservice fahren mussten und in den übrigen Zeiten die Hälfte aller Züge.

Angesichts der aktuellen Arbeitskampfmaßnahmen im Bahnverkehr und an Flughäfen, die teilweise ohne Vorankündigung stattfinden, hat sich die politische Diskussion intensiviert. Die NRW-Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) der CDU Angela Erwin kritisiert dem WDR gegenüber: „Wir erleben, dass bei den Streiks Maß und Mitte verloren gegangen sind. Wir brauchen gerade in der Daseinsvorsorge einen funktionierenden Staat auf den die Menschen sich verlassen können. “Deshalb fordert sie ein „Arbeitskampfgesetz“. Der Tourismuskoordinator der Bundesregierung, Dieter Janecek (Grüne) sieht im Vorgehen der
GDL eine „neue Form des entgrenzten Streiks“. Das sei „nicht nur eine Zumutung für Millionen Bahnfahrer, sondern geht mittlerweile an die Substanz unserer Volkswirtschaft“, sagte Janecek dem Handelsblatt.

Nach Ansicht des Präsidenten des Groß- und Außenhandelsverbands, Dirk Jandura, zeige der völlig unverhältnismäßige Streik der Lokführergewerkschaft GDL eindrücklich, wie notwendig eine gesetzliche Regelung zum Streikrecht sei. Ihm gehe es nicht um die Abschaffung des grundgesetzlich geschützten Streikrechts, sondern um „klare Leitplanken zum Schutz aller“. Das Mindeste sei hierbei vor allem Arbeitskämpfe in der kritischen Infrastruktur und Daseinsvorsorge in den Blick zu nehmen. „Denn von deren Funktionieren hängt unsere gesamte Gesellschaft und Wirtschaft ab,“ sagte Jandura.

In dieser Hinsicht sollten auch in Deutschland anderen europäischen Staaten vergleichbare Vorgaben für Arbeitskämpfe in der kritischen Infrastruktur erfolgen. Dies betrifft insbesondere Ankündigungsfristen vor Arbeitskampfmaßnahmen, die Sicherstellung eines Grundangebots der Versorgung und Schlichtungsversuche vor der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen.

II. Beschlussfassung

Der Landtag beauftragt die Landesregierung, sich auf Bundesebene insbesondere in Form einer Bundesratsinitiative für gesetzliche Vorgaben für Arbeitskämpfe in der kritischen Infrastruktur einzusetzen. Dazu zählen insbesondere folgende Punkte:

  • eine Ankündigungsfrist von mindestens 48 Stunden vor Arbeitskampfmaßnahmen,
  • die Sicherstellung eines Grundangebots der Versorgung, z. B. bei Verkehrsunternehmen von mindestens einem Viertel des regulären Angebots,
  • ein gescheiterter Schlichtungsversuch vor der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen, die über zeitlich und im Gesamtumfang beschränkte Warnstreiks hinausgehen.